DIENSTPFLICHT, WEHRPFLICHT – ODER LIEBER GAR NICHTS?

24.08.2018
Persönliche Meinung

Von Leonhard Grevesmühl, stellvertretender Vorsitzender der Schüler Union Schleswig-Holstein und Mitglied im Vorstand der Jungen Union Pinneberg.

„Wäre es nicht toll, wenn die jungen Leute nach der Schule erstmal ein Jahr was für die Gesellschaft machen würden? Irgendwas Soziales, oder was beim Militär. Da lernt man, was richtige Arbeit ist, trifft neue Leute und kann der Gesellschaft was zurückgeben!“

Diese innerhalb der Union schon seit längerer Zeit geführte Debatte um die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsdienstes, sei es in der Form der Wiedereinführung der klassischen Wehrpflicht und deren Ausweitung auch auf Frauen, oder aber der Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres für alle Schulabgänger, hat nun auch in die allgemeine, überparteiliche Bundespolitik Einzug gefunden. Grund dafür ist wohl vor allem die Forderung nach einer intensiven Debatte zu diesem Thema durch die Generalsekretärin der CDU – Annegret Kramp-Karrenbauer – im Rahmen eines Videos zu ihrer „Zuhör-Tour“[1]. Weil Kramp-Karrenbauer sich nicht klar für eines der oben genannten Modelle aussprach und auch wegen der Ähnlichkeit dieser, ist die momentane Debatte geprägt von wiederholten Verwechslungen der – doch unterschiedlichen – Forderungen. Die beiden Begriffe werden im öffentlichen Diskurs, gerade in Zeitungsüberschriften, häufig synonym gebraucht. So titelt z. B. die Berliner Zeitung: „Kommentar zur Wehrplicht: Wiedereinführung der Dienstpflicht wäre abenteuerlich“[2].

Dabei lohnt es sich, einen Blick auf den Sinn und Zweck einer allgemeinen Wehrpflicht zu werfen, zu verstehen, warum diese im Jahre 1956 inmitten der Gefahren des kalten Krieges wurde und ob sie die momentanen Personalprobleme der Bundeswehr lösen könnte. Es lohnt sich, ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis zu bewerten und vor allem zu beleuchten, wie der beim Volk weitaus beliebtere und sogar mehrheitlich für gut befundene[3] Vorschlag, der einer allgemeinen Dienstpflicht, juristisch und praktisch zu bewerten ist, was für ein Verständnis vom Verhältnis des Staats zu seinen Bürgern ihm zu Grunde liegt und was diesen grundlegend von der klassischen Wehrpflicht unterscheidet.

In Deutschland wurde die Wehrpflicht erstmals 1813 im Zuge der Stein-Hardenbergischen Reformen eingeführt. Einerseits, um innerhalb des Militärs eine stärkere soziale Heteroreginität zu erzeugen. Auf der anderen Seite, um eine größere Anzahl an Männern schnell ins Militär einziehen zu können, damit eine für die Befreiungskriege gegen Napoleon notwendige Mannstärke schnell erreicht werden konnte. Preußen behielt die Wehrpflicht nach dem Ende der Befreiungskriege 1815 bei, was Preußen von den meisten anderen Staaten wie Frankreich und Schweden, die bereits einmal eine Wehrpflicht eingeführt hatten, unterschied. Nachdem die Wehrpflicht in Deutschland auf Grundlage des Versailler Vertrags abgeschafft und dann durch die Nationalsozialisten völkerrechtswidrig wiedereingeführt worden war, sollte Deutschland nach 1945 eigentlich kein eigenes Militär mehr besitzen. Durch den kalten Krieg und die Zugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland zum westlichen Bündnis sowie die Lage der Bundesrepublik direkt an der Grenze zu den westlichsten Staaten des Warschauer Pakts (DDR und ČSSR) wurde jedoch nicht nur die Einrichtung eines bundesrepublikanischen Militärssondern auch  die Einführung einer Wehrpflicht notwendig. So ging aus Sicht der Unionsparteien mit dem Beitritt zur NATO auch die Verpflichtung zum Aufbau einer 500.000 Mann starken Armee einher[4].

Nun ist die Bundesrepublik heute nach wie vor Mitglied der NATO und nach wie vor gehen mit der Zugehörigkeit zu diesem Bündnis gewisse Verpflichtungen einher: Neben der Notwendigkeit einer schlagkräftigen eigenen deutschen Armee, deren Existenz abgesehen davon auch zur Wahrnehmung einer der zentralen staatlichen Pflichten – dem Schutz der Staatsbürger gegenüber Aggression und Gefahr von Außen – unabdingbar ist, ergibt sich eine Verantwortung Deutschlands zur Einhaltung Nato-intern vereinbarter Abmachungen – so z. B. zur Einhaltung des 2%-Ziels der Verteidigungsgemeinschaft oder zur Beteiligung an NATO-Bataillonen. Angesichts der Reduktion der Mannstärke in Armeen anderer NATO-Staaten, der Abschaffung der Wehrpflicht in diesen Staaten und der nicht mehr existenten Bedrohung der westlichen Staatengemeinschaft durch den Warschauer Pakt ist die Mannstärke jedoch nicht mehr – wie einst – maßgeblich für die Einhaltung der Verpflichtungen eines Staates innerhalb der NATO. Vielmehr ist es wichtig. Dass die Arbeit der einzelnen Einheiten des Militärs professionell von statten geht, dass dem Militär funktionstüchtige und moderne Ausrüstung zur Verfügung steht. Vor allem aber, dass gut ausgebildete, auf ihr Einsatzgebiet spezialisierte Soldaten langfristig dienen und Erfahrung sammeln. Dass nicht mehr die schiere Größe, sondern eher die Qualität der einzelnen Militärs eines Staates von Relevanz ist, hängt damit zusammen, dass sich die Art und Weise der Kriegsführung grundsätzlich von der von 1960 unterscheidet. Die Armeen, mit denen westliche Staaten heutzutage konfrontiert sind, kämpfen nicht, indem sie versuchen, eine lange Frontlinie aufrecht zu erhalten und Verbände in direkter Konfrontation gegeneinander antreten lassen, sondern indem sie sich der Strategie der asymmetrischen Kriegsführung bedienen, d. h., dass sie gezielt „Guerillataktiken anwenden, die Nachschublinien des Feindes angreifen, Kombattanten nicht in Uniformen, sondern in Zivil kämpfen lassen“[5]. Für eine Einhaltung der Bündnisverpflichtungen Deutschlands gegenüber der NATO ist eine Wehrpflicht somit nicht mehr nötig. Viel wichtiger ist es, dass die Bundesrepublik auf das 2%-Ziel hinarbeitet, eine gute Ausbildung für ihre Soldaten gewährleistet und sich rege an NATO-Manövern beteiligt.

Wichtig ist hierbei vor allem, zu berücksichtigen, dass sich für eine allgemeine Wehrpflicht nur dann argumentieren lässt, wenn sie für die äußere Sicherheit eines Staates unbedingt notwendig ist- Stellt sie doch einen massiven Eingriff in die Freiheit eines jeden deutschen Bürgers dar. Dem Individuum würde die freie Verfügung über seine Zeit und seinen Körper entzogen. Unter welcher Legitimation? Häufig genannte Ähnlichkeiten zwischen der Wehpflicht und der Steuerpflicht oder der Schulpflicht gibt es tatsächlich, doch gibt es zwischen ihnen auch wichtige Unterschiede: So gilt die Schulpflicht in so gut wie allen Fällen lediglich für Minderjährige, deren persönliche Rechte sich ohnehin noch in Grenzen halten. Für sie gibt es Verbote, die für volljährige Bürger nicht gelten, z. B. im Zusammenhang mit Alkohol und Tabak, ihre Vertragsfähigkeit ist eingeschränkt und für alle weiterreichenden Entscheidungen benötigen sie die Zustimmung ihres gesetzlichen Vormundes. Minderjährigen fehlt auch das Wahlrecht (zumindest auf Bundesebene), für sexuelle Aktivitäten gibt es ein Schutzalter, sie haben kein Recht auf Heirat, und auch wenn die Grünen und andere linke Parteien diese Bestimmungen für Kinder und Jugendliche lockern wollen, so ist es doch in der Mehrheitsgesellschaft Konsens, dass diese und ähnliche Einschränkungen im Leben von Kindern und Jugendlichen durchaus sinnvoll sind. Eben weil Jugendliche noch nicht im selben Maße wie Erwachsene als entscheidungsfähig angesehen werden können. Bevor diese Entscheidungsfähigkeit vorhanden ist, müssen die Jugendlichen erzogen werden – von ihren Eltern, unter der Aufsicht der staatlichen Gemeinschaft. So sagt es zumindest unser Grundgesetz[6]. Daraus, dass die staatliche Gemeinschaft über die Erziehung der Kinder und Jugendlichen wacht, ergibt sich die Schulpflicht. Die Steuerpflicht hingegen – die eine Einschränkung der Eigentumsrechte des Einzelnen darstellt – ist deswegen notwendig und legitim, weil für den Bestand und die Finanzierung des Staates, der die Rechte des Einzelnen nach innen und außen schützt, Abgaben der Bürger unbedingt notwendig sind. Wer auch immer bedroht oder mit der Verletzung seiner Rechte konfrontiert wird, kann sich auf den Schutz der staatlichen Gemeinschaft verlassen, die ihm mithilfe der Polizei zu Hilfe eilen und danach entscheiden wird, welche Strafe für denjenigen, der die Rechte eines Anderen verletzt, gerechtfertigt ist. Die grundlegenden Rechte eines jeden Menschen sind gleich. Deswegen hat auch jeder Mensch, der sich im Gebiet des deutschen Staats aufhält, einen Anspruch auf den Schutz seiner Rechte durch den Staat – und ist dazu verpflichtet, Steuern zu zahlen. Auch die Bereitstellung von öffentlichen Gütern, die allen gleichermaßen zustehen, ist staatliche Aufgabe – und muss durch Steuern gemeinschaftlich finanziert werden, weil geldliche Mittel zur Bereitstellung dieser öffentlichen Güter unbedingt notwendig sind.

Der Zweck der Wehrpflicht ist ein ähnlicher: Die Gewährleistung der Funktionalität des Militärs. Denn auch die Verteidigung nach Außen ist eine zentrale staatliche Aufgabe. Um dafür zu sorgen, dass der Staat seine Bürger gegen einen Angriff von außen schützen kann, ist es notwendig, eine Rechtsgrundlage für eine Wehrpflicht zu haben, aufgrund der im Verteidigungsfall auch Wehrpflichtige eingezogen werden sollten. Dies sollte generell immer dann geschehen, wenn die äußere Sicherheit des Staates nicht anderweitig sichergestellt werden kann.  Doch zur Gewährleistung dieser ist es nicht unbedingt notwendig, auch in Friedenszeiten Wehrpflichtige einzuziehen. Solange Deutschland nicht von einer ausländischen Macht angegriffen wird oder ein Angriff einer solchen kurz bevor steht, braucht der deutsche Staat keine Armee von mehreren hunderttausenden Wehrpflichtigen, um es gegen einen Ansturm auf unsere Grenzen zu verteidigen. Und in Anbetracht der Tatsache, dass der kalte Krieg, unter dessen Eindruck Deutschland lange ein Heer mit einer Stärke von ca. 400.000 Mann unterhielt, längst vorbei ist und Deutschland in Ost und West, Süd und Nord lediglich von freundlich gesinnten Staaten umgeben ist, ist dies momentan so unwahrscheinlich wie noch nie.

Im Gegenteil: Eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht würde dem deutschen Militär wahrscheinlich sogar schaden. Wie der ehemalige Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) bereits ausführte[7], würde die Wiedereinsetzung der momentan ausgesetzten Wehrpflicht „exorbitante Kosten“ mit sich bringen – was plausibel erscheint. So verursachte sie laut Experten allein im Jahre 2007, als die Wehrpflicht in Deutschland noch galt, Kosten in Höhe von rund 5,3 Milliarden Euro, d. h. ca. 19% des gesamten Verteidigungshaushaltes, die nicht offiziell im Verteidigungshaushalt ausgewiesen waren[8]. Ganz zu schweigen ist hierbei von den volkswirtschaftlichen Opportunitätskosten, die die Wehrpflicht dadurch verursacht, dass viele junge Menschen erst ein Jahr später in die freie Wirtschaft bzw. in ein Studium oder eine Ausbildung einsteigen können. So beliefen sich die Opportunitätskosten der Wehrpflicht im Jahre 2007, in dem der verpflichtende Wehrdienst 9 Monate in Anspruch nahm[9], auf durchschnittlich etwa 90.000 Euro pro Wehrdienstleistenden8. In Anbetracht der momentanen technischen Mängel bei vielen Ausrüstungsgegenständen der Bundeswehr sowie des dringenden Investitionsbedarfs, was bewaffnete Drohnen, Cybersicherheit und das Beheben von bestehenden Mängeln anbelangt[10], ist das Geld, das für die Wiedereinführung der Wehrpflicht aufgewendet werden müsste, sicher besser bei der Modernisierung der Bundeswehrausrüstung aufgehoben als bei der jährlichen Einberufung von Wehrpflichtigen. Diese müssten – das kommt noch dazu – auch ausgebildet werden und würden die Ausbildungskapazitäten der Bundeswehr auslasten. Eine unnötige Zeitverschwendung für die ausbildenden Soldaten – die gleichzeitig auch noch nicht einsatzbereit wären, weil sie mit der Ausbildung der neuen Rekruten beschäftigt werden – , die diese Zeit viel besser mit der Ausbildung von Rekruten verbringen könnten, die auch tatsächlich längerfristig bei der Bundeswehr bleiben und nicht größtenteils nach einem Jahr wieder weg sind. Es ist überdies sogar fraglich, ob die Bundeswehr momentan überhaupt die Kapazitäten besitzt, um eine größere Anzahl Wehrpflichtiger ausbilden zu können[11].

Auch die Vorstellung, die Bundeswehr würde nur so nach neuen Rekruten hecheln und sich über jeden Wehrpflichtigen freuen, der ein G36 bedienen oder ein Fahrzeug führen kann, ist falsch. Zwar besteht bei der Bundeswehr durchaus ein Bedarf nach neuem Personal – allerdings werden hier weniger Panzergrenadiere und Fußsoldaten, sondern „Hubschraubermechaniker und Spezialisten für Antriebsturbinen“[12] gesucht, mit denen eine Wehrpflicht für Schulabgänger eher nicht dienen könnte.

Doch mal ganz abgesehen von den militärischen Nachteilen, die die Wiedereinführung der Wehrpflicht hätte: wäre sie oder eine allgemeine Dienstpflicht nicht vielleicht die Lösung für die gesellschaftlichen Spannungen, die wir momentan in Deutschland erleben? Könnte eine allgemeine Dienstpflicht der Jugend von heute wieder Disziplin und Anstand beibringen? Denn schließlich „[L]iebt [die Jugend] heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte“, um auf ein fälschlich Sokrates zugeschriebenes Zitat anzuspielen. Mal ganz abgesehen davon, dass eine solche Argumentation nie von den Befürwortern einer Wehrpflicht gebraucht wurde, wenn dann nur die der „besseren sozialen Durchmischung“ der Truppe, wäre der Einsatz eines „allgemeinen Pflichtdienstes“ zu diesem Zweck immer noch ein massiver Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen – und diesmal völlig ohne jede Legitimation. Im Falle der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht würden volljährige Menschen dazu gezwungen, zu niedrigen Löhnen Arbeiten zu verrichten, die zwar – wie fast jede Arbeit – eine gewisse gesellschaftliche Relevanz haben, die allerdings keineswegs für den Bestand des Staates, den Schutz der Leben der Bürger, die Verteidigung des Landes oder die Gewährleistung der reibungslosen Abläufe im Staatswesen notwendig sind. Eine allgemeine Dienstpflicht ließe sich nicht vergleichen mit der Wehrpflicht, die im Spannungs- oder Verteidigungsfall zur Verteidigung unseres Staates notwendig ist, der Schulpflicht, bei der der Staat seine Aufgabe als Wächter über die Erziehung eines Kindes wahrnimmt, der kommunalen Institution der Pflichtfeuerwehr, die Bürger vor Bränden rettet, wenn sich keine Freiwilligen mehr finden, oder der Pflicht, in einem Wahlvorstand mitzuarbeiten, damit der reibungslose Ablauf demokratischer Wahlen gewährleistet bleibt, wenn sich auch hierfür keine Freiwilligen finden. Eine solche allgemeine Dienstpflicht stünde somit fundamental unserer freiheitlichen Ordnung gegenüber – sie wäre keine bürgerliche Verpflichtung, die es abzuleisten gelte, um diese freiheitliche Ordnung an sich zu erhalten. Keine kleine, individuelle Freiheit, die man aufgeben müsste, um die FDGO im Großen zu bewahren, sondern lediglich eine willkürliche Verpflichtung dazu, Dienste im sozialen Bereich zu verrichten, um die „Gemeinschaft zu stärken“ oder „junge Menschen auf das Leben vorzubereiten“.

Das sehe übrigens nicht nur ich so, sondern auch unser Grundgesetz, unsere Verfassung. Diese sagt nämlich: „Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.“[13] Die Wehrpflicht ist dadurch nicht betroffen, weil sie durch Artikel 12a GG autorisiert ist. Eine allgemeine Dienstpflicht wäre dies jedoch nicht, da sich der Artikel 12a explizit nur auf die Streitkräfte, den (nicht mehr existenten) Bundesgrenzschutz und Zivilschutzverbände bezieht. Auch die in Halbsatz 2 des Art. 12 Abs. 2 GG angesprochene Ausnahme gilt im Fall „allgemeine Dienstpflicht“ nicht, da eine solche Dienstpflicht keine „herkömmliche […] Dienstleistungspflicht“ darstellen würde, weil sie nie zuvor in dieser Form existierte[14].

Aber das Grundgesetz lässt sich ja ändern. Wobei die Änderung des Grundgesetzes mit dem Ziel der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht mit einem Problem daherkäme: Zwar bestünde die Möglichkeit, ähnlich wie mit Artikel 12a des Grundgesetzes die Wehrpflicht, eine allgemeine Dienstpflicht mithilfe eines Artikels 12b oder einer Änderung von Art. 12a ausdrücklich zu autorisieren. Dies wäre jedoch europa- und völkerrechtswidrig. Denn eine allgemeine Dienstpflicht fiele unter das Zwangsarbeitsverbot in Artikel 8 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte[15] sowie gegen das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit in Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention[16]. In letzterer heißt es: „Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten.“ Einzige Ausnahmen: Die Zwangsarbeit im Rahmen eines Gefängnisaufenthalts, eine militärische Dienstleistung oder ein ziviler Ersatzdienst – sofern dieser statt des aus Gewissensgründen verweigerten Militärdienstes geleistet werden kann und nicht primärer Bestandteil des Pflichtdienstprogrammes ist, wie es bei einer allgemeinen Dienstpflicht der Fall wäre, ein Pflichtdienst im Rahmen eines akuten Notstands, z. B. einer Sturmflut, einem Waldbrand o. ä., sowie „eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört“. Unter die Kategorie „übliche Bürgerpflichten“  fallen laut eines Papiers des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags von 200314 ähnliche Dienste wie die unter Art. 12 Abs. 2 Hs. 2 GG angesprochenen herkömmlichen Dienstleistungspflichten, womit eine „allgemeine Dienstpflicht“ nicht vom Zwangsarbeitsverbot der EMRK und des IPbürgR ausgenommen wäre.

Doch genug von dem rechtlichen Kram. Auch wenn wir hier bei der Jungen Union sind und dort – laut Klischee zumindest – jeder Zweite Jura studiert, ist das schließlich nicht für alle interessant. Wäre es nicht vielleicht doch eine Überlegung wert, die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht trotz dieser Hürden anzupacken, vielleicht in der Form einer als allgemeine Dienstpflicht gemeinten, rechtlich jedoch als auf beide Geschlechter ausgedehnte Wehrpflicht formulierten Gesetzgebung? Könnte man damit nicht vielleicht doch soziale Berufe wieder attraktiver machen oder Probleme in der Pflege lösen?

Nein. Denn gerade im sozialen Feld ist es wichtig, dass der Einsatz der in diesen Berufen aktiven Arbeitskräfte aus eigenem Antrieb kommt. Wer möchte schon von einem jugendlichen Schulabgänger gepflegt werden, der eigentlich gar keine Lust auf die Arbeit hat, die er macht und sich nur für das Feld entschieden hat, in dem er im Rahmen des Pflichtdienstjahres aktiv wird, weil es ihm als das geringste Übel erschien? Und wer hat Lust darauf, Jahr für Jahr aufs Neue komplett unerfahrene Neuzugänge auszubilden, die nach einem Jahr wieder durch neue Schulabgänger ersetzt werden? Und am wichtigsten: Ist es moralisch überhaupt vertretbar, Lücken, z. B. in der Pflege, zu stopfen, indem man Jahrgänge von Jugendlichen zu einem Zwangsdienst verpflichtet? Auch wenn viele in der Bevölkerung sowie in der Politik kein Problem darin zu sehen scheinen, so tun es doch diejenigen, die selbst tagtäglich mit Bundefreiwilligendienst ableistenden Jugendlichen zu tun haben, so z. B. Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands[17]. Dieser sagt, mit Zwang gehe das nicht. Stattdessen sollte man es denjenigen, die Lust auf eine freiwillige Aktivität im sozialen Bereich haben, leichter machen, sich dort auch zu engagieren. Es wäre sicherlich sinnvoll, Bundesfreiwilligendienstleistenden Fahrtkosten zu erstatten und ihre „Bezahlung“ zu erhöhen, sodass diejenigen, die Lust darauf haben, sich ein Jahr lang in einem sozialen Bereich freiwillig zu engagieren, dies auch problemlos können.

Und auch die häufig genannten Argumente, eine allgemeine Dienstpflicht würde den Jugendlichen nützen, da sie lernten, was es heißt, sich gesellschaftlich zu engagieren und dass sie Jugendlichen eine Möglichkeit bieten würde, der „Gemeinschaft etwas zurückzugeben“ stoßen bei mir auf Unverständnis. Denn es ist nicht die Aufgabe eines Staates, erwachsene Menschen zu erziehen. Eigentlich ist es nicht einmal Aufgabe des Staates, Kinder zu erziehen. Dies bleibt nach wie vor die Aufgabe der Eltern. Durch staatliche Schulen und eine immer häufigere Übernahme erzieherischer Funktionen durch Lehrer oder Kita-Erzieher sinkt die Motivation vieler Eltern, ihren Kindern grundlegende gesellschaftliche Werte beizubringen. Es wird nicht möglich sein, Jugendlichen innerhalb eines Jahres wichtige gesellschaftliche Werte zu vermitteln. Wenn daran schon Eltern und Lehrer gescheitert sind, warum sollte es dann eine Dienstpflicht schaffen, die Jugendliche für ein zusätzliches Jahr in staatliche Obhut legt und die Zeit, bis sie in ein normales Berufsleben einsteigen und idealerweise eine Familie gründen, weiter hinauszögert? Und wenn es Eltern und Lehrer geschafft haben, grundlegende Wertevorstellungen zu vermitteln, wozu braucht man dann noch eine Dienstpflicht, die genau dies tun soll?
Was ich mich auch frage: Wieso sollte ich der Gemeinschaft, das heißt in diesem Fall wohl dem Staat, der tatsächlich für meine Schulbildung, Straßen, Polizei usf. aufkommt, zwangsweise etwas in Form eines Pflichtdienstjahres zurückgeben müssen, wenn doch statistisch gesehen 54,3 Prozent meines künftigen Einkommens nicht mir selbst zur Verfügung stehen?[18] Sodass ich nicht selbst entscheiden kann, wofür dieses Geld ausgegeben wird, sondern in Form von Rundfunkgebühren, Sozialabgaben sowie Lohn-, Kapitalertrag-, Umsatz-, KFZ-, oder Grundsteuer an den Staat fließt. Und das auch, damit politisch unkorrekte Kasernennamen geändert werden[19] und Frauen mir erklären können, warum sie eigentlich gar keine Frauen sind[20].

Wenn ich mir diese hohe Abgabenlast und die Verwendung des dadurch an die Gemeinschaft „zurückgegebenen“ Geldes angucke, glaube ich nicht, dass wir ein Problem damit haben, dass die Bürger der Gesellschaft nicht genug zurückgeben. Stattdessen leben wir in einer Gesellschaft, die Individuen und das, was sie für die Wirtschaft, die Gesellschaft und den technologischen Fortschritt in unserem Land tun, viel zu wenig würdigt. Wir besteuern schon Arbeitseinkommen ab 54.950 Euro mit dem Spitzensteuersatz[21] von 42%, während wir Kapitalerträge lediglich mit 25% besteuern[22]. Wir belasten de jure Unternehmen, de facto Unternehmenseigner, Beschäftigte und Kunden, in der Regel mit einer Abgabenlast in Höhe von 29,83%, übertroffen nur von einigen wenigen anderen Staaten[23], die jedoch zunehmend die Fehler dieser Politik einsehen[24][25].

Es ist Zeit, den Bürgern Deutschlands wieder mehr Entscheidungsfreiheit über das zu geben, was ihnen gehört. Und damit meine ich nicht nur ihr Geld, sondern auch ihre Zeit und ihren Körper. Erwachsene Menschen wissen selbst am besten, was sie am besten können, wie sie ihre Zeit am effektivsten verwenden können und müssen auch so frei sein, nach der Schule erst einmal Erfahrungen im Ausland, im elterlichen Betrieb oder im eigenverantwortlichen Studium von Büchern sammeln zu dürfen. Natürlich – wer ein Jahr lang freiwillig gesellschaftliche Aufgaben übernehmen will, der soll das tun können. Der Bundesfreiwilligendienst und der freiwillige Wehrdienst müssen gewürdigt werden, z. B. durch das Anrechnen von zusätzlichen Wartesemestern oder zukünftige Steuervorteile. Doch am Ende sollte jeder selbst entscheiden können, was er nach der Schule macht. Denn was für ihn am besten ist, kann nicht nur jeder Einzelne am besten selbst beurteilen, sondern es ist auch eine bessere Vorbereitung auf das spätere Leben, die erste eigene Entscheidung mit nachhaltiger Wirkung zu treffen, als alles andere. Mal ganz abgesehen davon, dass die Freiheit von willkürlichen Zwängen ein fundamentales Menschenrecht ist.

[1] Deutschlandfunk: „Kramp-Karrenbauer will Dienstpflicht für alle“, 04. 08. 2018

[2] Berliner Zeitung: „Kommentar zur Wehrpflicht Wiedereinführung der Dienstpflicht wäre abenteuerlich“, 05. 08. 2018

[3] ZDF: heute – in Deutschland: „Zustimmung für allgemeine Dienstpflicht“, 10. 08. 2018

[4] http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/231388/1956-wehrpflichtgesetz-20-07-2015; „Das 500.000-Mann-Heer“

[5] ntv: „Asymmetrische Kriegsführung“, 31. 03. 2003

[6] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 6, Absatz 2

[7] Welt: „Wehrdienstpflicht hätte „exorbitante Kosten““, 06. 08. 2018

[8] Manager Magazin: „Verschossen in die Wehrpflicht“, 23. 08. 2007

[9] Statista: „Dauer des Grundwehrdienstes bei der Bundeswehr in Deutschland in Monaten von 1957 bis 2011“, August 2008

[10] Deutschlandfunk: „“Dringend nötige Investitionen““, 26. 01. 2016

[11] Deutschlandfunk: „Allgemeine Dienstpflicht – eine Augenwischerei“, 06. 08. 2018 („Wehrpflichtige könnten gar nicht ausbildet werden“)

[12] Augen geradeaus!: „Rückkehr der Wehrpflicht? Bislang keine sicherheitspolitische Debatte“, 06. 08. 2018

[13] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 12, Absatz 2

[14] Ausarbeitung WF III – 180/03 zum Thema „Rechtliche Würdigung der Möglichkeit einer Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für junge Frauen und junge Männer“ des Fachbereichs III (Verfassung und Verwaltung) des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages
(https://www.bundestag.de/blob/407416/b3d790fb6fcd9e4a6c4ce444c91aef0c/wf-iii-180-03-pdf-data.pdf )

[15] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ICCPR/iccpr_de.pdf

[16] https://www.menschenrechtskonvention.eu/konvention-zum-schutz-der-menschenrechte-und-grundfreiheiten-9236/

[17] BR24: „Paritätischer Wohlfahrtsverband: „Bundesfreiwilligendienst attraktiver machen““, 06. 08. 2018

[18] Focus Money: „Von einem Euro bleiben nur 45,7 Cent übrig: Einkommensbelastung so hoch wie nie“, 18. 07. 2018

[19] NDR: „Kaserne in Hannover bekommt neuen Namen“, 16. 03. 2018

[20] Auf Klo: „Non-Binary: Kein Mann & keine Frau!“, 16. 11. 2017 (via Youtube; im Auftrag von funk, Gemeinschaftsangebot der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) und des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF))

[21] Einkommensteuergesetz, §32a Einkommensteuertarif

[22] Einkommensteuergesetz, §32d Gesonderter Steuertarif für Einkünfte aus Kapitalvermögen

[23] Bundesministerium der Finanzen: „Die wichtigsten Steuern  im internationalen Vergleich 2015“, Ausgabe 2016; Rechtsstand zum 31.12.2015, Grafik 3: Unternehmensbesteuerung 2015 im internationalen Vergleich (Seite 20)

[24] ntv: „Macron verabschiedet neue Steuerreform“, 30. 12. 2017

[25] Zeit: „Trump plant Unternehmenssteuer von 20 Prozent“, 27. September 2017