Wege aus der Geldpolitik des Nullzinses und der Anleihekäufe durch die EZB

06.05.2020
Persönliche Meinung

Das Bundesverfassungsgericht hat am 5. Mai 2020 entschieden, dass das Anleihenkaufprogramm (englisch: Public Sector Purchase Programme (PSPP)) der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise gegen das Deutsche Grundgesetz verstößt. Als Hauptargument führen die Karlsruher Richter an, dass weder Bundesregierung noch Bundestag die Beschlüsse der EZB zur (indirekten) Staatsfinanzierung geprüft haben bzw. dazu berechtigt sind, diese zu prüfen.


Interessant sind vor allem die Diskrepanzen zwischen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Dezember 2018. Der EuGH hatte damals erklärt, das PSPP sei lediglich ein geldpolitisches Instrument und damit durch das Mandat der Notenbank gedeckt. Das Bundesverfassungsgericht schlägt in eine andere Kerbe: Die Beschwerdeführer werfen der EZB im Kern verbotene Staatsfinanzierung vor. Dabei geht es vor allem um angebliche Risiken für deutsche Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die so über Umwege für die Schulden anderer europäischer Länder haften sollen.


Die Auswirkungen dieses Urteils auf die Börse und die Finanzmärkte dürfte turbulent werden. Das gestiegene Risiko, dass die hochverschuldeten Länder der EU, allen voran Italien, näher an einen Staatsbankrott rücken, dürfte spürbare negative wirtschaftliche Konsequenzen mit sich bringen. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie bräuchte die Wirtschaft Sicherheit anstelle von noch mehr Unsicherheit. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist aber vor allem ein weiteres Kapitel im Missverständnis der Krisenpolitik der EZB.
Im Mandat der EZB ist eindeutig festgelegt, dass ihre Geldpolitik einzig und allein dem Erhalt der Preisstabilität dienen darf. Als Preisstabilität ist dabei eine Inflationsrate von nahe, aber knapp unter zwei Prozent definiert. Dies mag im ersten Moment seltsam erscheinen, folgt jedoch eindeutigen ökonomischen Grundsätzen. Mit dem Zwei-Prozent-Ziel soll Deflation, also sinkende Preise, verhindert werden. Ein gesamtwirtschaftlich sinkendes Preisniveau kann eine langanhaltende Wirtschaftskrise auslösen, da sowohl Unternehmen als auch Konsumenten Investitionen und Käufe in die Zukunft verschieben, um dann in den Genuss geringerer Preise zu kommen. Eine moderate und konstante Geldentwertung setzt Unternehmen und Konsumenten hingegen Anreize, erwirtschaftetes Geld möglichst schnell wieder zurück in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen. Nur so sind langfristiges Wachstum und Wohlstand überhaupt möglich.


Die Inflationsrate in der Eurozone (also dem Zuständigkeitsbereich der EZB) liegt jedoch seit Jahren unter zwei Prozent. Besonders brenzlig war die Situation im Jahr 2015, als die Inflationsrate in der Eurozone auf null Prozent gefallen war und gerade in den am stärksten von der Eurokrise betroffenen Ländern bereits negativ war. Dies war der Hauptgrund, warum die EZB ihre Anleihenkaufprogramme (die übrigens sowohl Staats- als auch Unternehmensanleihen beinhalten) überhaupt startete. Die EZB war gezwungen, geldpolitisches Neuland zu betreten, da die Eurozone ansonsten in eine Phase der Deflation und der Rezession ohne absehbares Ende gerutscht wäre, und die EZB damit ihr Mandat genau nicht erfüllt hätte. An dieser Ausgangslage hat sich bis heute nicht viel geändert.


Die Nullzinspolitik kann man am Ende ebenfalls auf das Mandat der EZB zurückführen. Niedrige Zinsen führen (normalerweise) zu höheren Investitionen und einer Ausweitung der Kreditvergabe und kurbeln damit Wirtschaftswachstum und Inflation an. Von beidem hatte die EU bzw. die Eurozone in den letzten Jahren zu wenig. Gleichwohl sind die Krisenländer der Eurozone auf niedrige Zinsen angewiesen; das fragile Vertrauen der Finanzmärkte in Staaten wie Italien beruht vor allem darauf, dass diese Länder ihre Zinszahlungen zu den derzeit absolut niedrigen Zinssätzen begleichen können.


Der damalige EZB-Präsident Mario Draghi stellte in einer vielbeachteten Rede („whatever it takes“) im Jahr 2012 klar, dass es die EZB als ihre Verpflichtung sieht, ein Auseinanderbrechen der Eurozone durch Staatsbankrotte ihrer Mitgliedsstaaten mit allen der EZB zur Verfügungen stehenden Mitteln zu verhindern. Auch hier folgt die EZB lediglich ihrem Mandat. Preisstabilität und damit verbundene Sicherheit für Unternehmen und Konsumenten ist eine absolute Grundvoraussetzung für eine funktionierende Wirtschaft, für Wachstum und für Wohlstand. Dies ist der Kontext, aus dem die Geldpolitik der EZB vorrangig betrachtet werden sollte.
Bedeutet dies nun, dass wir langfristig in einer Welt ohne Zinsen leben müssen? Nicht unbedingt. In den letzten Jahren ist jedoch klar geworden, dass die Regierungen der Eurozonenländer aktiv werden müssen. Trotz jahrelanger superbilliger Kredite investieren die meisten (großen) Unternehmen in der EU zu wenig und sparen netto sogar Rücklagen an. Eine paradoxe Situation, durch die die bis heute nachwirkenden Erschütterungen der Finanzkrise deutlich zu Tage treten.


Wenn die Geldpolitik mit konventionellen Maßnahmen schon lange nicht mehr weiterkommt und der Unternehmenssektor Investitionen in hinreichendem Umfang offensichtlich nicht tätigen will, liegt der Ball bei den Staatsregierungen der EU-Mitgliedsstaaten. Als mit Abstand wirtschaftsstärkstes Land der EU steht Deutschland hier in einer besonderen Verantwortung. In den vergangenen Jahren hat sich die Bundesregierung jedoch vor allem als Bremser hervorgetan. Weder im eigenen Land noch europaweit traut man sich, ambitionierte öffentliche Investitionsprogramme auf den Weg zu bringen. Gleichzeitig wird gerade aus Reihen der Unionsparteien Kritik an der Geldpolitik der EZB immer lauter.


Das ist ein Widerspruch in sich. Erst zwingt man die krisengebeutelten Staaten Südeuropas zu drastischen Sparmaßnahmen und pocht dann als wirtschaftliches Gewinnerland (Rekordsteuereinnahmen, nahezu Vollbeschäftigung, massive Exportüberschüsse) auch zuhause aufs eiserne Sparen für die Schwarze Null, wundert sich dann über hohe Arbeitslosigkeit, kaum Wirtschaftswachstum und ausbleibende Inflation im Rest Europas, und attackiert dann auch noch die EZB, die notgedrungen nach Lösungswegen aus dieser Misere sucht. Dass antieuropäische und antideutsche Stimmungen in vielen europäischen Staaten massiv an Zulauf gewinnen (der Brexit ist noch nicht so lange her, und in Italien sind EU-Gegner bzw. -Kritiker mittlerweile in der Mehrheit), ist eine wenig überraschende Konsequenz, die in Deutschland überraschenderweise aber mehrheitlich achselzuckend wahrgenommen wird, wenn überhaupt.


Noch immer vorherrschende Ressentiments, dass es sich bei Südeuropäern sowieso mehr um Schmarotzer handelt, die den deutschen Steuerzahler für eigene wirtschaftspolitische Ausschweifungen blechen sehen wollen, lösen sich bei genauerer Betrachtung auch in Luft auf. Ein Beispiel: Seit mehr als dreißig Jahren nimmt der italienische Staat seinen Bürgern mehr Geld ab als er ihnen zurückgibt (1). Seit 2010 hat Italien (durch den Austeritätsdruck Deutschlands) seine öffentlichen Investitionen um 40 Prozent (!) gesenkt. Wer in Krisenzeiten noch mehr spart und Steuern erhöht, verschlimmert die wirtschaftliche und haushaltspolitische Situation seines Landes, anstatt sie zu verbessern. Aus eigener Erfahrung sollte Deutschland es eigentlich besser wissen: Die rot-grüne Bundesregierung hat Anfang der 2000er ebenfalls versucht, durch Ausgabenkürzungen in der Krise die Staatsschuldenquote in den Griff zu bekommen. Am Ende brachen die Einnahmen aber schneller weg als die Ausgaben.
Dass ein massives öffentliches Investitionsprogramm den Weg aus einer jahrelangen Wirtschaftskrise ebnen kann, ist längst bekannt. In den 1930er-Jahren hat die US-Regierung um Präsident Franklin D. Roosevelt mit dem „New Deal“ genau dies getan und damit die „Great Depression“ in den USA erfolgreich bekämpft. Auch damals taten konservative Kreise die neuen und bis dato unbekannten Maßnahmen als „undenkbar“ ab. Heute gehört antizyklische Fiskalpolitik zum Standardrepertoire einer jeden verantwortungsvoll agierenden Regierung.

Das Problem in Europa bzw. der EU ist und bleibt mangelhafte Solidarität, und zwar von allen Seiten. Womit sich am Ende der Kreis schließt. Die EZB betreibt weder ihre Nullzinspolitik noch ihre Anleihenkaufprogramme aus Spaß oder um den „deutschen Sparer“ zu ärgern. Vielmehr ist es der zunehmend verzweifelte Versuch, den Wohlstand und die Wirtschaft der Eurozone zu erhalten und damit auch den Euro und schlussendlich die EU vor dem finalen Auseinanderbrechen zu bewahren (Großbritannien hat ja bereits „Goodbye“ gesagt). Die Sparpolitik der vergangenen Jahre mit all ihren Auswüchsen hat die Eurozone und damit auch die EU auf einen gefährlichen Schlingerkurs gebracht und überall Unmut erzeugt. Die Mitteleuropäer ärgern sich über ausbleibende Zinsen auf ihre Sparbücher und über explodierende Immobilienpreise (auch eine Nebenwirkung der Nullzinspolitik), die Südeuropäer leiden weiterhin unter hoher Arbeitslosigkeit und drastischen Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitssystem.
Die Politik muss endlich aktiv gegensteuern. Gerade jetzt, wo die Corona-Pandemie eine zusätzliche enorme wirtschaftliche Belastung darstellt, muss die EU und damit vor allem Deutschland vorangehen, wahre europäische Solidarität beweisen und einen zeitgemäßen, europäischen „New Deal“ auf den Weg bringen. Nur so kann schlussendlich auch die EZB in eine Position gebracht werden, ihre Dauerrettungspolitik zu beenden und zur „Normalität“ zurückzukehren.

Autor: Nico Lukas Kasparetz (23), Kreisverband Stormarn

(1) wenn man aus den Staatsausgaben Italiens die Zinszahlungen für Altschulden herausrechnet, lebt der italienische Staat seit Ende der 1980er-Jahre auf Dauerverschleiß