
Der breite Widerstand der Deutschen gegen die geplante Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (englisch: Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) wird zu dem Skurrilsten gehören, mit dem sich Historiker dereinst beschäftigen können. Ausgerechnet im exportorientierten, vermeintlich so weltoffenen Deutschland lässt sich als einzigem Land neben Österreich und Luxemburg demoskopisch keine Mehrheit für einen engeren Schulterschluss von alter und neuer Welt ermitteln. Anstelle einer sachlichen Diskussion prägen als Chlorhühnchen verkleidete oder mit Hormonspritzen ausgerüstete Aktivisten das öffentliche Bewusstsein. Wollen wir eine historische Chance nicht verspielen, müssen wir die Mitte der Gesellschaft von dieser Hysterie befreien.
Dass dies gelingen kann, zeigen schon die Parolen der Aktivisten selbst. Mit den eigentlichen Inhalten von TTIP haben die vielfach nur begrenzt zu tun, sondern richten sich gegen so ziemlich alles, was in diversen Enthüllungs-, Empörungs- und Verschwörungsbüchern den Stichworten „Kapitalismus“ und „Globalisierung“ zugeschrieben wird. TTIP bietet denen, die sich von der Komplexität einer globalisierten und digitalisierten Gesellschaft entmündigt fühlen, ein wahres All-Inclusive-Paket: Mit ihm lässt sich gleichermaßen gegen Brüsseler Bürokratie, amerikanische Machtansprüche, „die Konzerne“ und „die Politiker“, kurzum gegen „die da oben“ wettern.
Dass hier eine Minderheit tatsächlich ganz generell einen abgeschotteten, regulierungswütigen Nationalstaat einfordert und dafür TTIP als vermeintliche Manifestation allen Übels in Geiselhaft nimmt, belegt auch die dreiste Bereitschaft zur Desinformation, mit der Organisationen wie Attac oder Campact die deutsche Hysterie befeuern. Dem Kreml gleich untergraben diese hochprofessionellen und finanziell bestens ausgestatteten NGOs den Konsens über Tatsachen als Voraussetzung jeder sachlichen Diskussion, wenn sie ganz einfach immer wieder behaupten, mit TTIP drohe die Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung, der vereinfachte Anbau gentechnisch veränderter Lebensmittel oder die Liberalisierung von Fracking. Die weltweite Vernetzung von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik wird zur Bedrohung für unsere Gesundheit hochstilisiert.
Wer sich derart dreist der Lüge bedient, hat in der öffentlichen Debatte stets die Initiative. Während redliche Diskussionsteilnehmer noch bemüht sind, die Fakten mit Verweis auf das Verhandlungsmandat der Kommission geradezurücken, haben die Aktionsbündnisse vor Ort durch TTIP-kritische Resolutionen der Gemeinderäte und Kreistage bereits ganze Arbeit geleistet. Selbst Mandatsträger der Union erklären in der Folge häufig, ein Angriff auf die öffentliche Daseinsvorsorge durch TTIP sei mit ihnen nicht zu machen. Die so entstandene Wahrnehmung, der deutsche Vorgarten sei in ernster Gefahr, ist auch der späten Bereitschaft der Entscheidungsträger zu einer aktiven Informationspolitik geschuldet.
Wie nötig diese ist, zeigt eine der Hauptspielarten der Panikmache: Die angebliche Verdrängung hochwertiger deutscher Lebensmittel durch vermeintlich gesundheitsgefährdende amerikanische Produkte. Dieses Klischee verkennt bereits den Kern von Freihandel, der die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers nicht beschränken, sondern stärken will. Wer bislang zu regionalen Bio-Produkten gegriffen hat, wird dies auch mit TTIP weiterhin tun können. Wer sich als mündiger Verbraucher dagegen für ein US-Erzeugnis entscheidet – das natürlich wie bisher auch als solches gekennzeichnet sein wird –, dessen Freiheit wird durch den Abbau von Zöllen gestärkt. Die in hohem Maße wettbewerbsfähige deutsche Lebensmittelindustrie befürwortet TTIP ohnehin mit Nachdruck, bilden die Zölle hier in vielen Bereichen doch noch ein echtes Exporthindernis, wie etwa der US-Zoll für Milchprodukte von 19 Prozent.
Blickt man auf die fast einhellig positiven Prognosen der Ökonomie, rückt vor allem eine soziale Dimension des Abkommens in den Vordergrund. So wird der durchschnittliche EU-Privathaushalt nach einer Studie des nichtstaatlichen und unabhängigen Centre for Economic Policy Research (CEPR) durch TTIP jährlich 545 Euro mehr im Portemonnaie haben. Selbst wenn der Nutzen geringer ausfallen sollte, schafft TTIP damit einen beträchtlichen Wohlstandszuwachs, von dem keineswegs nur Spitzenverdiener profitieren – ganz im Gegenteil: Der Abbau von Zöllen erzeugt Wettbewerb, die Angleichung von Produktstandards senkt die Entwicklungskosten, was jedem Verbraucher über niedrigere Preise zugutekommt. Da Standards nur dort angeglichen werden, wo dies das Schutzniveau wahrt oder erhöht, kann entgegen vielfacher Behauptungen auch keineswegs von einem Abbau des Verbraucherschutzes die Rede sein.
Eine junge Familie mit Kindern wird sich durch TTIP also beispielsweise eher ein eigenes Auto leisten können, das sie dann mindestens ebenso sicher von A nach B bringt. Dass sich der linke Mainstream für diesen Gedanken nicht so recht erwärmen kann, zeugt nicht nur von dessen Entfremdung von eigentlich urlinken Kernthemen wie Armutsbekämpfung, sondern auch von mangelndem Verantwortungsbewusstsein für die derzeitige Krise Europas. Ein Veto des Deutschen Bundestags, der neben dem Europäischen Parlament über TTIP als sogenanntes „gemischtes Abkommen“ entscheiden muss, möchte ich mir angesichts der aktuellen Austeritätspolitik gar nicht vorstellen: Mit guten Gründen erzählen deutsche Politiker ihren spanischen oder griechischen Kollegen, sie sollten der schwierigen Situation in ihren Ländern nicht mit teuren Konjunkturpaketen begegnen, sondern den Teufelskreis aus hoher Staatsverschuldung und geringem Wirtschaftswachstum mit Sparsamkeit und Reformen durchbrechen. Den Krisenländern nun auch noch die prognostizierten 400.000 durch TTIP allein in Europa entstehenden Arbeitsplätze zu verwehren, wäre ein Hohn gegenüber den Millionen vor allem junger Menschen, die in ihrer Heimat derzeit keine wirtschaftliche Perspektive sehen.
TTIP ist genau der Marshallplan, der ihre Situation verbessern kann. Das Abkommen schafft ganz ohne neue Schulden nicht nur Wettbewerb im transatlantischen Raum, sondern steigert auch die Attraktivität Europas als Ziel für Investitionen. Denn Unternehmen aus Drittländern wird mit der Gründung einer Tochtergesellschaft in Europa durch TTIP der Zugang zum Binnenmarkt sowohl der EU als auch der USA eröffnet. Entscheiden wir uns in einer Epoche globaler Kräfteverschiebungen und einer immer engeren wirtschaftlichen Verflechtung des pazifischen Raums dagegen für den Weg in die Isolation, werden Investoren auch weiterhin einen Bogen um die südeuropäischen Staaten machen; die europäische Wirtschaftskrise und mit ihr die Existenzkrise der EU gerät so zum Dauerzustand.
Ein Blick auf Fakten statt auf Schlagworte ist auch beim angeblich drohenden Ausverkauf des Rechtsstaates durch Investorenschutz und Schiedsgerichte angezeigt. So ist vielen TTIP-Gegnern offenbar die Tatsache nicht bewusst, dass Unternehmen die Bundesrepublik Deutschland selbstverständlich auch heute schon auf Schadensersatz verklagen können, wenn diese widerrechtlich in ihre Eigentumspositionen oder Grundfreiheiten eingreift. TTIP sorgt insofern – vergleichbar den Europäischen Verträgen – vor allem für ein Verbot von Diskriminierungen ausländischer Unternehmen. Richtig ist, dass bei der Ausgestaltung der geplanten Schiedsgerichtsverfahren auf ein gewisses Maß an Transparenz, demokratische Legitimation und Integrität der Richter zu pochen ist, was etwa durch ein Vorschlagsrecht der Parlamente erreicht werden kann.
Wie zahlreiche europäische Unternehmen bereits durch diskriminierende Urteile US-amerikanischer Gerichte erfahren mussten, wäre insbesondere ein Verweis auf die nationale Gerichtsbarkeit keine Alternative zu einer eigenständigen Streitbeilegung. Investorenschutz und überstaatliche Gerichte nehmen vor allem den zahlreichen kleinen und mittelständischen deutschen Unternehmen ohne eigene Rechtsabteilung eine große Hürde für ein Engagement auf dem US-amerikanischen Markt und sichern so qualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland.
Der scharfe Kontrast von Mythen und Fakten zeigt, dass sich vielleicht nicht das Volk der Dichter, zumindest aber der Denker für TTIP gewinnen lassen muss. Eine echte inhaltliche Auseinandersetzung anstelle ideologischer Empörungskultur sind wir nicht zuletzt unseren amerikanischen und europäischen Partnern schuldig. Das klingt nach einer perfekten Herausforderung für die JUNGE UNION.
Der Artikel erschien bereits im Magazin der JU Deutschlands, der ENTSCHEIDUNG
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