BREXIT – EIN PLÄDOYER FÜR EUROPA.

05.10.2016

Von Till Unger, Beisitzer im Kreisvorstand der JU Kreis Plön

Als ich am 24. Juni 2016 morgens auf mein Handy blickte, da konnte ich das Abstimmungsergebnis noch nicht fassen. Das war für viele in Europa ein Tag der Trauer. Am Tag nach der Brexit-Abstimmung war klar, dass das Vereinigte Königreich (UK) die Europäische Union (EU) verlassen wird. Mit knappen 51,9% votierte eine Mehrheit für einen Austritt.

Dem Volksentscheid ging eine sehr emotionale Debatte über den Verbleib in der EU voraus. Die beiden Kontrahenten, Brexit-Befürworter Johnson und der damals amtierende Premierminister Cameron, lieferten sich keine faktenbasierte Debatte sondern viel mehr eine solche, die auf Gefühlen, Ängsten und Vorurteilen aufbaute. Dabei ging es vor allem auch um persönliche Glaubwürdigkeit. Die Menschen nahmen Cameron nicht ab, dass er nun plötzlich für einen Verbleib in der EU warb, obwohl er doch immer ein großer Kritiker vieler EU-Entscheidungen war. Durch den Volksentscheid war es dem Wähler möglich geworden, das politische Establishment abzustrafen. Deutlich verstärkend wirkten zudem die Fragmentierung der großen Parteien und die Ungleichheit zwischen Stadt (vor allem London) dem Land. Fast nebenbei deutete sich ein Generationenkonflikt an, denn eine deutliche Mehrheit der jüngeren Bevölkerung votierte für einen Verbleib, hatte aber tragischerweise eine unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung. Was lernen wir daraus? Volksabstimmungen klingen erst einmal gut, reduzieren aber eine komplizierte Thematik auf eine absurde Einfachheit. Gleichzeitig sollten wir uns ernsthaft mit dem Thema beschäftigen, warum junge Menschen, obwohl es wissentlich um ihre Zukunft geht, nicht zur Wahl gehen.

Nach und nach kommen nun die Fakten auf den Tisch und es wird immer deutlicher, welche Auswirkungen der Brexit hat bzw. haben wird.

Artikel 50 der EU-Verträge regelt, wie solch ein Austritt aus der EU abzulaufen hat. Ab dem Tag, an dem das Austrittsgesuch offiziell eingereicht wird, bleiben der EU und dem Vereinigten Königreich genau zwei Jahre, um ein Austrittsabkommen zu verhandeln. Nebenbei bemerkt wurde das Austrittsabkommen mit Grönland sieben Jahre verhandelt. Damals waren die Verträge jedoch noch lange nicht so umfangreich wie heute (ca. 12.000 Rechtsvorschriften). Neben diesem enormen zeitlichen Druck kommt noch erschwerend hinzu, dass Großbritannien schlicht die Experten fehlen, denn diese arbeiten zu großen Teilen für die EU. Wir werden uns auf eine lange Zeit der Unsicherheit und Ungewissheit einstellen müssen. Vor Mitte 2019 sollte der Austritt bestenfalls vollendet sein, denn ansonsten stehen die Wahlen für das Europäische Parlament an. Es wäre verrückt, wenn dort wieder Abgeordnete aus dem Vereinigten Königreich in das Parlament einziehen würden und somit auch weiterhin die Möglichkeit hätten, Entscheidungen im Parlament oder im Rat zu blockieren (z.B. Verteidigungsunion).

Wie genau ein „Danach“ eigentlich gestaltet werden soll, ist beiden Seiten bisher unklar.

Die Europäer haben keinerlei Erfahrungen mit einem Austritt eines tragenden Mitgliedslandes. Nach Jahrzehnten der Erweiterungen sieht man sich nun zu Rückschritten gezwungen, die eigentlich nie gemacht werden sollten.

Doch auch in Großbritannien fehlt bisher ein klarer Plan. Brexit-Befürworter wie Farage haben bereits einige ihrer Wahlversprechen und sich selbst in die zweite Reihe zurückgezogen. Schottland und Nordirland, die beide mehrheitlich für einen Verbleib gestimmt haben, überlegen offen, aus dem Vereinigten Königreich auszutreten und weiterhin Mitglied der EU zu bleiben. Für Nordirland wäre eine EU-Außengrenze im eigenen Land politisch, wirtschaftlich und sozial besonders heikel, denn nach Jahrzehnten des Kriegszustandes schien endlich ein Friedensweg eingeschlagen worden zu sein.

Theresa May, die Nachfolgerin von Cameron, steckt in einer Zwickmühle. Einerseits möchte sie gerne im gemeinsamen Binnenmarkt bleiben, müsste dann aber die Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren. Dies wiederum ist ein No-Go für die Brexit-Befürworter. Sie hat allen drei Hardlinern in ihrem Kabinett bereits in zentralen Fragen widersprochen. Boris Johnson (Außenminister) hat ein Punktesystem bei der Einwanderung gefordert, Liam Fox (Handelsminister) fordert den Austritt aus der europäischen Zollunion und David Davis (Brexit-Minister) bezeichnete eine weitere Mitgliedschaft im Binnenmarkt als „unwahrscheinlich“. Alle diese Punkte hat May dementiert, ein Konflikt in der Regierung scheint unausweichlich.

Für die Zeit nach dem Austritt sind drei mögliche Szenarien im Gespräch, die ich kurz vorstellen möchte. Auch andere Szenarien sind möglich, jedoch beschränke ich mich hier auf die wahrscheinlichsten:

„Norwegen-Modell“: Großbritannien bleibt Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum (EFTA), akzeptiert die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes (freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) und zahlt auch weiterhin für die Struktur- und Forschungspolitik, verliert aber sein Stimmrecht und muss alle neuen Regelungen, die den Binnenmarkt betreffen, übernehmen. Tragisch ist dabei, dass das Vereinigte Königreich auch weiterhin etwa 50% bisherigen Zahlungen in den Haushalt zahlen muss, Entscheidungen aber nicht mehr mitbestimmen kann.
„Schweiz-Modell“: Bilaterale Verträge zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich mit Zugang zum Binnenmarkt, gleichzeitig würden aber auch die Grundfreiheiten des Binnenmarktes gelten. Zudem muss auch die Schweiz für die Struktur- und Forschungspolitik bezahlen. Das „Schweiz-Modell“ ist äußerst kompliziert und umfangreich, deshalb hat der EU-Rat 2012 beschlossen, keine bilateralen Abkommen nach diesem Prinzip mehr abzuschließen.
Das Vereinigte Königreich könnte versuchen, ein Freihandelsabkommen mit der EU zu schließen und dort Sonderregelungen herauszuarbeiten. Abkommen dieser Art brauchen mindestens vier Jahre, wahrscheinlich eher ein Jahrzehnt, bis diese komplett verhandelt und beschlossen werden und sehr fraglich ist, ob die EU Sonderregelungen akzeptieren wird. In der Zwischenzeit würden Waren nach den Regeln der WTO gehandelt werden, die Zölle auf z.B. Milchprodukte würden 35% und auf Zucker sogar 125% betragen. Und da war ja noch das Problem mit den fehlenden Experten.
Sowohl Vereinigte Königreich, als auch die EU stecken in einem Dilemma. Die EU möchte potentielle Nachahmer wie Dänemark oder die Niederlande abschrecken und gleichzeitig die Interessen ihrer Unternehmen wahren, indem der gemeinsame Binnenmarkt erhalten bleibt. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist für die EU jedoch unverhandelbar und für Großbritannien unvereinbar mit dem Brexit-Votum.
Wie soll in Zukunft mit den Briten umgegangen werden, die in Europa leben und arbeiten? Wie mit den 2,2 Millionen nicht-britischen Staatsbürgern, die noch im Vereinigten Königreich leben und arbeiten?

Sicher ist nur, dass der Beginn der Verhandlungen so schnell wie möglich sein muss, damit die Verunsicherung für die Unternehmen gemildert wird. Schon jetzt sinkt die Investitionsbereitschaft deutlich.

Vor allem aber zeigen die drei Szenarien, dass die im Wahlkampf gemachten Versprechen der Brexit-Befürworter nicht zu halten sind. Einen Zugang zum Binnenmarkt wird es nicht ohne Arbeitnehmerfreizügigkeit geben und die britische Wirtschaft ist zu sehr auf den Zugang angewiesen (50% des Exports gehen in die EU-Staaten). Zudem stelle ich mir die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, wenige Milliarden zu sparen, wir sprechen hier von etwa 5 Mrd. € pro Jahr, dafür aber das Stimmrecht zu verlieren. Politische Freiheit kann somit auch politische Isolation bedeuten.

1,12% des britischen Haushalts fließen an die EU und dabei sind die Rückflüsse nicht einmal mit eingerechnet. Meiner Meinung nach wurde die EU hier im Wahlkampf verteufelt, obwohl die wirklichen Zahlen ein anderes Bild zeigen.

Ja, Großbritannien ist ein Nettozahler. Aber lassen sich die Vorteile der Mitgliedschaft nur in Euro ausdrücken? Nein, ich finde nicht! Die EU ist weit mehr als das Einzahlen in einen großen Topf. Hätten sich die 700.000 Arbeitsplätze am Finanzplatz London angesiedelt, wenn es nicht als Brückenkopf nach Europa fungiert hätte? Ohne Bankenlizenz und dem damit verbundenen Zugang zum Binnenmarkt wäre dies nicht möglich gewesen. Und nun wird ein Teil abwandern, nach Paris oder Frankfurt, wenn es keinen Zugang zum Binnenmarkt gibt. Hätten sich über 2.500 deutsche Unternehmen im Vereinigten Königreich angesiedelt und dort 370.000 Menschen beschäftigt? Dies entspricht immerhin etwa 1% aller Beschäftigten.

Haben nicht auch die britischen Universitäten enorm durch den Zustrom an Erasmus-Studenten profitiert? Haben nicht auch britische Bürger die Chance genutzt, in Europa frei zu reisen und beim Telefonieren nach Hause fast nichts mehr zu bezahlen? Das sind nur einige wenige Beispiele, diese zeigen aber bereits, dass die EU über ein einfaches Zahler- und Empfänger-Verständnis hinaus geht und auch hinausgehen muss!

Auch für Deutschland ändert sich nach dem Brexit die Position. Auf den ersten Blick werden wir ein stärkeres politisches Gewicht in Europa bekommen, allerdings verlieren wir mit dem Vereinigten Königreich auch einen liberalen Partner an unserer Seite bei EU-Entscheidungen. Folglich werden vor allem die Süd- und Osteuropäer profitieren.

Auch wenn die Briten von ihren goldenen Zeiten und dem British Empire träumen, so sieht die Lage in der Realität doch etwas anders aus. Abspaltungstendenzen in Schottland und Nordirland, offener Streit innerhalb der Regierung, Stadt gegen Land und Jung gegen Alt. Das British Empire ist im Vergleich zur EU politisch und ökonomisch rückständig. Die Briten haben mit ihrem Votum nicht einen Schritt nach vorne gemacht, sondern meiner Meinung nach viele Schritte zurück. Ein „Exit“ vom Brexit wird eine Option bleiben, die jedoch äußerst unrealistisch ist.

In meiner Zeit hier in Brüssel im Europäischen Parlament habe ich aber auch das genaue Gegenteil zu der deprimierenden und frustrierten Brexit-Stimmung erlebt, die sich über fast alle Mitglieder des Europäischen Parlamentes ausbreitet. Es war ein schottischer Abgeordneter des Regionalparlaments, der mit Leidenschaft und Energie für einen Verbleib „seines“ Landes in der EU geworben hat, der sagte, man werde die Familie Europas nicht verlassen, selbst wenn damit ein Austreten aus dem United Kingdom nötig wäre. Die Zukunft Schottlands liege in Europa, im größten Friedensprojekt der Welt, ein Ort der Freiheit und Menschenrechte, ein Ort der Begegnungen zwischen den Völkern und ein Garant für Wohlstand für seine Bürger.

Unter tosendem Applaus verbesserte sich die Miene des Abgeordneten aus Schottland, aber auch alle anderen hatten auf einen Schlag ein positives, nach vorne gerichtetes und kämpferisches Gesicht.

Jetzt erst recht! Jetzt erst recht werden die verbliebenen 27 Mitgliedsstaaten den europäischen Einigungsprozess weitertragen, dringend notwendige Reformen zügig anschieben und noch enger zusammenstehen! Wir werden den Briten zeigen, dass ihre Entscheidung falsch war. Wir wollen keine Rache, aber wir wollen auf keinen Fall eine Rosinenpickerei. Und vielleicht ist nun der erste Schritt bereits getan, denn eine verstärkte gemeinsame Verteidigungspolitik war bisher immer am Veto der Briten gescheitert.

Wir können nur hoffen, dass diese Stimmung möglichst lange anhält und wir demnächst nicht über den nächsten „-exit“ sprechen müssen.