Es geht uns alle an

27.10.2023
Persönliche Meinung

Blogbeitrag von Hannah Wadephul

Ich empfinde starken Weltschmerz. Beim Öffnen von Instagram blickt mich ein Bild von der Tagesschau an: Ausschreitung bei Demonstrationen anlässlich des Krieges in Israel. Morgens beim Duschen höre ich die Nachrichten: Menschen auf der Flucht sterben im Mittelmeer. Ich lese Zeitung: Erinnerung an den jüngsten Konflikt an der serbisch-kosovarischen Grenze. Es prasseln Informationen zu Konflikten auf uns ein: Bergkarabach, der seit über zehn Jahren bestehende Krieg in Syrien, die Auseinandersetzungen und insbesondere Unterdrückungen im Iran, Erdbeben in der Türkei, Syrien und Afghanistan und so viel mehr.
AfD-Wahlergebnisse, Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, Inflation, Arbeitskräftemangel. Der Gedanke daran, dass die Einheiten im Geschichtsunterricht zur Shoa wohl offensichtlich noch nicht lang genug waren. Die Liste der Dinge, die mich nicht schlafen lassen, ist unendlich lang. Manchmal übermannt es mich und am liebsten würde ich keine Nachrichten mehr hören, gucken oder lesen. Einfach abschalten und damit nichts zu tun haben. Es belastet mich und ich frage mich, was kann ich überhaupt tun? Ob ich das lese oder nicht, das ändert doch nichts.

Doch, das ändert etwas! Ich beende natürlich keine Kriege oder rette Menschen unmittelbar. Aber ich informiere mich, um aktiv an unserem demokratischen Leben teilzunehmen. Ein „Basis-Wissen“ ist dabei unerlässlich: Wenn ich nicht weiß, worüber sich Politiker:innen streiten, dann kann ich mich auch nicht entscheiden, wem ich zustimme. Und darüber hinaus: Ich kann auch keine eigenen Vorschläge machen.

Wer jetzt sagt: Ja, Hannah, das ist ja schön und gut, dass du „am demokratischen Leben teilnehmen möchtest“ – aber was heißt das eigentlich? Und was bringt das konkret?
Ich engagiere mich in einer Partei und einer politischen Jugendorganisation; ich schreibe Anträge und versuche andere Menschen, die Einfluss auf politisches Geschehen haben, von meiner Meinung zu überzeugen; ich mache Wahlkampf und erkläre unsere Positionen bei Schuldiskussionen. Aber man muss gar nicht unbedingt in eine Partei oder eine politische Jugendorganisation eintreten: Das fängt alles viel früher an. Im Gespräch mit deinen Freund:innen über das, was in der Welt passiert; wenn du Menschen aus anderen Generationen gesellschaftliche Veränderungen erklärst oder dich beim Einkauf bewusst gegen Produkte entscheidest, die mit großer Wahrscheinlichkeit durch Zwangsarbeit hergestellt wurden. Das alles ist politisch.

Andersherum ärgert es mich vielmehr, wenn nach Beginn des Krieges in Israel in sozialen Netzwerken erklärt wird, dass man nicht innehalten kann, das Leben müsse weitergehen. Ja, selbstverständlich geht unser Leben weiter. Wir alle gehen arbeiten, gestalten unsere Freizeit und dürfen auch Spaß haben. Aber wir müssen uns als Gesellschaft auch positionieren und darüber im Austausch sein. Und die Verantwortung haben alle Menschen: Jede und jeder von uns sollte dafür werben, für die Demokratie einzustehen. Und es schadet nicht, das zu tun.

Dasselbe gilt für die politischen Akteure. Es sollten sich weder die Parteien die Verantwortung dafür gegenseitig in die Schuhe schieben noch behaupten, sie würden alles tun. Die Wahlergebnisse sprechen da eine andere Sprache. Junge Menschen wählen überdurchschnittlich die AfD – wohin mag das führen? Ich fordere alle Parteien auf, auf die Menschen zuzugehen. Das ist nicht gleichzusetzen mit Mehrheitsmeinungen übernehmen. Sondern ganz echt und persönlich losgehen und fragen; nicht warten, dass jemand zur Jahreshauptversammlung vorbeikommt oder anruft. Sich nicht immer um sich selbst drehen. Sich immer wieder fragen: Wofür machen wir das? Ansprechbar sein – auch wenn es Durststrecken gibt. Und: Politik besser erklären. Ferdinand von Schirach hat den Vorschlag gemacht, der Bundespräsident solle einen Podcast machen, vergleichbar zum Corona-Podcast von Drosten. Ja – genauso: Dahin gehen, wo die Menschen sind und erklären. On- und offline.

Sich zu engagieren, ist ein großer Verdienst für unsere Demokratie. Früher haben Freund:innen mein Engagement manchmal belächelt. In der JU zu sein und daneben in der Kirche Kinderbibelwochen zu organisieren, ist objektiv nicht cool. Aber man kann manchmal Dinge im Kleinen oder Großen bewegen. Man kann dazu beitragen, dem Konstrukt Demokratie Leben zu verleihen. Und das ist die Antwort, die ich auf die Geschehnisse in der Welt geben möchte: Es werden Demokratien angegriffen – sie bedeuten Freiheit. Diese Freiheit müssen wir uns bewahren und wir müssen die Freiheit derjenigen schützen, die angegriffen werden und uns solidarisieren. Mit den Menschen, die von ihrer eigenen Regierung beschossen werden; der Bevölkerung und insbesondere den Frauen im Iran; Menschen, die vor Krieg und Vertreibung fliehen. Es geht uns alle an.