
... Chancen ungenutzt zu lassen?
Krisen testen uns. Sie stärken das Bewusstsein dafür, wie es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land, wie es um die Rechte, Pflichten und Freiheiten aller Bürgerinnen und Bürger steht. Krisen machen uns bewusst, wie ausschlaggebend diese Beurteilung für die ungewisse Entscheidung über Leben und Tod sein kann. Denn während die umfassenden Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 eine wichtige Wende einzuleiten vermögen, drängt eine Debatte in den Fokus über die wir bereits lange vor dem Jahr 2020 ehrlich hätten sprechen sollen: Es geht um die Blutspende in Deutschland und das Recht, spenden zu dürfen.
Fakt ist: Gerade durch die Corona-Pandemie kommt es derzeit in Deutschland zu einem erheblichen Rückgang der Bereitschaft in der Bevölkerung, Blut zu spenden. Dieser Zustand stellt Blutspendedienste vor die enorme Herausforderung, den Bedarf an Blutkonserven, Blutplasma und Thrombozyten sicherzustellen. Der Aufruf an die gesunde Bevölkerung, weiterhin zu spenden, ist richtig und wichtig. Wir können froh über jeden Mitbürger sein, der durch seine Spende die medizinische Versorgung in unserem Land unterstützt. Was man jedoch im Hinterkopf behalten sollte: Millionen von Deutschen spricht dieser Aufruf nicht an. Aufklärung darüber, warum das so ist, liefert die "Richtlinie zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten", die von der Bundesärztekammer und dem Paul-Ehrlich-Institut erstellt wird und gemäß § 5 I TFG die Auswahl der spendenden Personen regelt.
Demnach sind Menschen mit einem sogenannten sexuellen Risikoverhalten von der Blutspende ausgeschlossen. Diese Personengruppen dürfen dank einer Reform im Jahr 2017 zwar mittlerweile Blut spenden, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie zwölf Monate lang keine "Risikokontakte" – also keinen Sex – hatten. Zu diesen Personengruppen zählen männliche Homosexuelle und Transsexuelle, männliche und weibliche Prostituierte sowie heterosexuelle Personen mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern.
So ein Ausschluss muss gut begründet sein. Doch ist er das auch?
Naheliegend wäre ja zunächst, eine medizinische Entscheidung auch mit einer medizinischen Faktenlage zu untermauern. Dass die Spende bestimmter Personengruppen an außerordentliche Hürden geknüpft ist, wird glücklicherweise zunächst auch mit konkreten Infektionsrisiken begründet. Alle genannten Personengruppen haben demnach gemein, dass sie ein erhöhtes Ansteckungsrisiko für HIV oder das Hepatitis-C-Virus trifft. Epidemiologische Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigen, dass Sex unter Männern („MSM“) mit einem besonders hohen Übertragungsrisiko für verschiedene Infektionen einhergeht. Demnach entfallen mehr als zwei Drittel der jährlichen Neuinfektionen mit HIV auf die Personengruppe der MSM, bei Syphiliserkrankungen mit bekanntem Infektionsweg sind es 85% aller Erkrankungen. Das gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhte Infektionsrisiko resultiert folglich aus der Diskrepanz zwischen dem häufigen Nachweis einer Infektion und dem Personenanteil der Gesamtbevölkerung: Zahlen des RKI geben schließlich an, dass rund 3-5% der Bevölkerung Männer sind, die mit Männern Sex haben.
So weit, so nachvollziehbar, würde man meinen. Das müsste doch auch jeder Homosexuelle verstehen, oder?
Wer sich diese Frage stellt, sollte sein Bild von Homosexuellen einmal kurz hinterfragen. Mal abgesehen von der fragwürdigen, pauschalen Gleichsetzung von Homosexuellen mit Sexarbeitern fragt sich jeder schwule Mann in einer monogamen Beziehung, der seine eigene Gesundheit und die seines Partners ernst nimmt, doch zurecht, was ihn und seinen Partner von einem monogam lebenden heterosexuellen Paar ernsthaft unterscheiden soll. Seit 1992 ist Homosexualität laut der Weltgesundheitsorganisation keine Krankheit mehr, seit 1994 ist der einvernehmliche Sexualkontakt zwischen Männern in Deutschland nicht mehr strafbar. Die rechtliche Gleichstellung von homosexuellen Menschen ist in vielen Bereichen erreicht. Wenn schließlich bereits in einschlägigen Dating-Apps der eigene HIV-Status freiwillig als Information angegeben werden kann, dann ist zumindest unter Schwulen der Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten wirklich kein Tabuthema mehr, auch wenn die Ansteckungszahlen natürlich nicht zu unterschätzen sind. Es ist das Eine, informiert zu sein, aber etwas vollkommen anderes, sich tatsächlich testen zu lassen und zu schützen.
Auf die Frage, warum aber die 12-monatige Rückstellfrist auch für sexuell aktive schwule Männer gilt, die in einer festen Partnerschaft leben, gibt das Robert-Koch-Institut auf seiner Website folgende skandalöse Antwort, die einer renommierten medizinischen Institution nicht gerecht wird:
„Auch in einer festen Beziehung ist nicht auszuschließen, dass beide Partner tatsächlich treu sind. Der Partner setzt sich bei Sexualverkehr außerhalb der Partnerschaft einem erhöhten Infektionsrisiko aus und stellt damit auch für den treuen Partner ein Infektionsrisiko dar.“
Um es auf den Punkt zu bringen: Schwule Männer, die in einer festen Partnerschaft leben und sexuell aktiv sind, dürfen demnach auch deshalb kein Blut spenden, weil ihnen, unter anderem durch das RKI, eine höhere Untreue in der Beziehung unterstellt wird als Heterosexuellen. Das ist so nicht hinnehmbar. Diese Form der Diskriminierung darf in der Debatte keinen Platz haben, weil sie nicht nur Homosexuelle stigmatisiert, sondern die Diskussion verzerrt und der anspruchsvollen Thematik schlichtweg nicht gerecht wird.
Womit wird die Ausschlussregelung sonst begründet?
Das Argument, dass man für eine zeitliche Ausschlussregelung gelten lassen muss, ist jenes der Inkubationszeit. Bei einigen der sexuell übertragbaren Erkrankungen können die Erreger über einen längeren Zeitraum unerkannt im Blut zirkulieren, ohne dass man sich schon krank fühlt oder der Erreger im Blut erkannt werden könnte. Bei einer Blutspende in dieser Erkrankungsphase besteht die Gefahr, dass der Erreger auf den Empfänger der Spende übertragen wird. Allerdings wird jede Blutspende immer auf Krankheiten untersucht. Falls dann ein Befund von der Norm abweicht, werden die Blutspenden aussortiert. Beispielsweise der HI-Virus kann allerdings bereits zwei bis sechs Wochen nach der Infektion im Blut nachgewiesen werden, was den zwölfmonatigen Ausschluss von Risikogruppen unverhältnismäßig lang erscheinen lässt. Ein späterer Test der Blutkonserven ist zudem allein schon deshalb nicht möglich, da diese spätestens nach 42 Tagen eingesetzt worden sein müssen.
Es wird im Übrigen auch damit argumentiert, dass eine konkrete Befragung aller Spender nach ihrem Sexualverhalten nicht gut von den Spendern angenommen würde und eine einzelne Befragung aus zeitlichen Gründen und in Ermangelung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Spender und Spendepersonal überhaupt nicht möglich sei. Es stellt sich dann allerdings die Frage, wer denn überhaupt den heterosexuellen Dauer-Single mit ständig wechselnden Tinder-Bekanntschaften vom Blutspenden abhält, wenn er keine Auskunft über dieses Verhalten gibt. Wer stoppt den Homosexuellen von seiner Spende, wenn er seine sexuelle Orientierung nicht offenlegt?
Das System zur Blutspende in Deutschland basiert auf der moralischen Selbstverpflichtung der Mehrheitsbevölkerung, ehrliche Angaben zum eigenen Sexualverhalten zu machen und auf einem unverhältnismäßig langen Pauschalausschluss von Minderheiten.
Das Fazit daraus sollte nicht sein, wie es einige politische Akteure derzeit tun, mit dem pauschalen Gleichheitsappell auf Stimmenfang bei der einschlägigen Wählerschaft zu gehen, sondern stattdessen die nachvollziehbare Kritik abzuwägen und die Richtlinien erneut zu reformieren. Das sollte zum einen die deutliche Verkürzung der Ausschlussphase für Risikogruppen beinhalten, zum Beispiel auf vier Monate, wie es in Dänemark der Fall ist. Zum anderen könnte man sich an Ländern wie beispielsweise Spanien und Italien orientieren, die Spender nach individueller Risikobeurteilung durch das ärztliche Personal zur Spende zulassen, darunter auch MSM in einer festen Beziehung.
Im Vordergrund der Blutspende sollten letztlich nie die Spender stehen, sondern immer die Spendeempfänger. Ihre Sicherheit muss vollumfänglich gewährleistet sein, das Ansteckungsrisiko so klein wie möglich gehalten werden. Dennoch könnten schon die zu erwartenden, weiteren hunderttausend Spender nicht nur die Blutspende in Deutschland erheblich stärken. Zudem würde eine Reform auch die lange Debatte über moralische Verpflichtungen, Anerkenntnis und Gleichberechtigung rund um das Thema Blutspende ein Stück weit beenden.
Lasst uns diese Reform gemeinsam anstoßen: faktenbasiert, ehrlich und mutig. Welche Lösung findet ihr am besten?
Von Justus Alexander Schmitt.
Der Autor ist Kreisvorsitzender der Jungen Union Pinneberg.
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